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Neujahrspredigt vom 1. Januar 1900 in der Ulrichskirche zu Magdeburg

Der Originaltext

Zu Beginn des neuen Jahres, am Morgen des 1. Januar des Jahres 1900, hielt Karl Storch diese Predigt in Magdeburg. Dies ist der Originaltext. Da finden Sie den Text, wie er von uns 100 Jahre später neu rezitiert wurde.

Magdeburt 1900

Magdeburg um 1900

Wo kommst du her, wo willst du hin?

"Aber der Engel des Herrn fand sie bei einem Wasserbrunnen in der Wüste, nämlich bei dem Brunnen am Wege gen Sur. Der sprach zu ihr: „Hagar, Serais Magd, wo kommst du her, und wo willst du hin?" (1. Mose 16,7-8)

Verschmachtet, müde und matt sinkt Hagar am Wasserbrunnen in der Wüste nieder. Hinter ihr liegen die Jahre, da sie wie eine Herrin in Abrahams reichem Hause schalten und walten durfte - vor ihr dehnt sich die Zukunft, braun und dürr wie die Wüste. Hinter ihr liegt die Erfahrung, daß das Glück auf leichten Sohlen vorübereilt - vor ihr wandert schweren Fußes Entsagung und Hoffnungslosigkeit. Sie hat ein Heim, sie hat eine Jugend gehabt - nun sinkt die Heimatlose arm und elend an der Oase nieder.

Wohl rinnen die Tropfen über den harten Stein und die matte Hand sammelt das spärliche Naß, um die brennenden Lippen zu netzen, aber für die Schmerzen des blutenden Herzens gibt´s keine Kühlung. Und wir glauben’s der ärmsten gern: verlassen zu sein, ohne Trost, ohne Hoffnung durch des Lebens Wüste zu gehen, das ist Höllenqual!

Da sitzt sie und sinnt trübe Gedanken - Hagar!

Fällt kein Strahl in deine Nacht? Bist du ganz verlassen? ganz vereinsamt ? - Da rauscht es um ihr müdes Haupt, und wie sie in ihrem Jammer aufzuschauen wagt, wird es licht vor ihren Augen. Ein Bote Gottes steht vor der Weinenden: "Hagar, wo kommst du her? Hagar, wo willst du hin?"

Wie’s der armen Verlassenen zu Mute gewesen sein mag, als mit der Erkenntnis, daß der treue Gott auch das elendeste seiner Kinder nicht verlässt und versäumt, neue Freudigkeit durch ihre Adern rinnt, und wie sie an der Hand des Engels getröstet aus der Wüste schreitet, wer will’s ausmalen!

Es ist das ein Bild aus alter Zeit ... aber es ist ein Bild und Gleichnis für den Neujahrsmorgen.

Und du bist es und ich, denen das Bild mit seiner Unterschrift gilt. Dein Gott und Herr, der dich bis zum Wasserbrunnen des neuen Jahres hat wandern lassen, steht vor dir mit der Frage:

"Wo kommst du her ? Wo willst du hin?" So antworte denn! - und die Antwort lautet: "Aus viel Gottestreue und Barmherzigkeit !"

O, es läuten und klingen mit den Neujahrsglocken so viele volle und übervolle Herzen! Mutterherzen, durch die es wie himmlische Musik rauscht: "Vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat!" - Vaterherzen, die im Takte des alten lieben Liedes pulsieren: "Gelobt sei deine Treue, die alle Morgen neue !" - Junge Herzen, die im überschwang schlagen: "Liebe ist stark wie der Tod, daß auch große Wasser sie nicht mögen auslöschen !" - Alte Herzen, die in stiller Bewegung klopfen: „Noch lässt der Herr uns leben !“ - Und wo Herzen vor zwölf Monden in Harm und Sorge hämmerten, klingt´s heute voll und vernehmlich: "Der Herr ist nun und nimmermehr von seinem Volk geschieden !" - Und Herzen, die im Zweifel und Kleinglauben standen, sind fest geworden und bezeugen, was das für ein köstlich Ding sei - o, wie alle, die wir uns allhier zusammenfinden, haben auf den Wegen, die hinter uns liegen, die Erfahrung gemacht, dass Einer bei uns gewesen ist, der nicht schläft und schlummert ... der uns Mut und Kraft und Glauben wunderbar erneute - der uns hielt, wo wir zu fallen drohten - der seine Hände über unseren Kindern hielt, wo wir es nicht vermochten - der uns die Arme stärkte und stählte, wo sie in der Gefahr standen, schlaff herabzusinken - ja, wir kommen aus einem Jahre voller Gottestreue und Barmherzigkeit!

Und wir kommen aus einem Jahre voller Mühe und Arbeit

- Wohl dem, der schaffen und arbeiten durfte, und wohl dem, dem die Arbeit nicht Mühsal und Last war ! Denn nicht wehmütig und resigniert, sondern freudigen Mutes stehen wir auf dem Gottesworte: wenn´s köstlich gewesen ist, ist´s Mühe und Arbeit gewesen! Und wenn der Arbeiter, der in teurer Zeit das tägliche Brod für ein Häuflein Kinder schaffen muß - wenn der Geschäftsmann, der unter Sorgen und Kopfzerbrechen seiner Nahrung nachgeht .. wenn der Beamte, der auf dem Wege strenger Pflichterfüllung nicht nach links oder nach rechts schaut .. wenn die Hausmutter, die vom Sonnenaufgang bis zum Niedergang auf den Füßen ist und sich dennoch des kommenden Tages freut .. wenn alle, die ihre Hände wacker gerührt haben, auf die Frage: "Wo kommt ihr her?" antworten dürfen: "Aus viel Mühe und Arbeit!" so ist solche Antwort im Sinne dessen, der gesagt hat: "Ich muß wirken, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann !" Denn niemals hat der Heiland tatenlose Beschaulichkeit als Ideal, und niemals emsiges Arbeiten als Schreckbild hingestellt: sein Leben ist ein Leben der Arbeit gewesen. Aus viel Mühe und Arbeit kommen wir her.

Und wenn wir kommen aus einem Jahre vielfacher Heimsuchungen

- O manche Hand haben wir vor Jahresfrist noch drücken dürfen ... nun ist sie starr und kalt. So manches treue Auge hatte mit uns fröhlich in die kommende Zeit geschaut - nun ist die Netzhaut zerrissen. So manches Herz schlug für uns - nun ist sein letzter Schlag verhallt. Und so manche Mutter sinkt wie Hagar nieder, und es ist ihr zu Mut, als ob Wüsten vor ihrem Fuß lägen, und so manchem Vater wird das Auge naß, wenn er der Herzen gedenkt, die nun weit draußen schlagen. Und die wehmütige Frage schreitet durch unsere Reihen:

Warum es so viel Leiden,
So kurzes Glück nur gibt,
Warum denn immer scheiden,
Wo man so sehr geliebt?

So manches Aug´ gebrochen
Und mancher Mund nun stumm,
Der erst noch hold gesprochen -
Du armes Herz, warum?

Ach, die Tränenkrüglein wurden auch im vergangenem Jahre voll geweint ... übervoll ! und Leid und Harm ziehen durch unsere Seele; wir kommen aus vielfacher Heimsuchung !

Und wir kommen aus vielfacher übertretung und Schuld

Wie Gespenster ziehen die Sünden der vergangenen Tage an unserem Auge vorüber. Wir fragen einen Tag nach dem andern, und jeder hat unsere Schwachheit gesehen. Wie uns die Leidenschaft packte, und wie wir schwach genug waren, uns binden zu lassen ! Wie in der Seele geheime Wünsche, unlautere Regungen aufsteigen, und wie wir schmählich unterlagen! wie der Haß aufloderte und die Lieblosigkeit entbrannte - wie wir uns vor denen verschlossen, die auf unsere Liebe den ersten Anspruch hatten - wie wir Männer und Frauen nicht miteinander, sondern nur nebeneinander gingen - wie die Väter nicht des Hauses Priester, die Mütter nicht des Hauses Friede waren, und wie die Kinder des Hauses nicht den ölzweigen um den Tisch des Hauses glichen - ach, so vieles ist durch unsere Schuld wüst geworden und wüst geblieben: wir kommen aus viel Schuld und übertretung. Und wir kommen nicht allein - mit uns kommt unser ganzes Volk.

 

Deutsches Volk, sag’ an, wo kommst du her?

Willst du antworten; aus einem Friedensjahre?

Ja, Gottlob! Vom Rhein bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt durften wir in Frieden wohnen, und auch im verflossenen Jahre hat Gott der Herr unserem Kaiser und König die Friedensgedanken gestärkt. Aber um der deutschen Ehre willen hat so mancher deutsche Muttersohn draußen in Südwestafrika sein junges Leben lassen müssen, und immer noch müssen Mutterherzen bangen, wenn die Zeitung von neuen Verlusten meldet - Und in den deutschen Stammlanden ? Dürfen wir von einem Friedensjahre reden? Ach, friedelos, verbittert stehen viele Volkskreise da, und wollte man ihnen predigen: Friede ! Friede ! so antworten sie grollend: Kein Friede ! Friede um keinen Preis! - Die deutsche Nationalsünde, die Eifersüchtelei, ist nicht überwunden - die Sittlichkeit, einst so hoch gepriesen und gerühmt von deutschen Männern und Frauen, hat sich in grauenhaften Prozessen im trübsten Lichte gezeigt - charakterfeste Gesinnung, deutsche, ehrliche Art reiften nicht an jedem Baume - Liebedienerei, Strebertum, so undeutsch wie unmännlich, gingen im Schwange. Nun, Kommen wir wirklich aus einem Friedenjahre?

Wo kommst du her ? so müssen wir heute die evangelische Kirche fragen. Aus der Wüste ?

Ja - vielfach waren es Wüstenwege, die sie wandeln mußte - Durch die Wüste der Gleichgültigkeit, in der Hunderttausende verharren, und dabei nicht merken, wie sie innerlich verschmachten - durch die Wüste der Verständnislosigkeit, in der Aber-Hunderttausende stehen, und sie haben keine andere Frage als die armselige: Was kann uns die Kirche noch sein ? Schafft sie uns Brot und Behagen ? - durch die Wüste der Verkennung, in die auch die Gebildeten unserer Tage geraten sind, und sie schielen dabei nach Rom und nach seinem Pompe -

Ach ! unsere teure evangelische Kirche ist dieses Weges gezogen, aber selbstlose Liebe war ihr Kleid - sie hat ihre Ohnmacht bitter empfinden müssen, aber freudiger Glaube war ihr Schild - und wie auch die Wüste sich dehnt: immer noch rauscht der evangelischen Kirche der Brunnen, der Wassers die Fülle hat. Und wird uns in diesen kritischen Zeitläufen bange, so stärkt uns der Engel Gottes am Wasserbrunnen: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird in Ewigkeit nicht dürsten.

Da kommst du her! - Nun aber, sag´ an, wo willst du hin?

Wollten wir die Gedankenlosen fragen, so würden die einen seufzen und stöhnen: Wir hinein ins alte Leben, ins alte Elend - die anderen würden jauchzen: Hinein in neue Lust und in neues Vergnügen - die dritten würden rechnen und sprechen: Vorwärts zu neuem Gewinn ! Frisch auf zur Jagd nach dem Glück ! Noch andere würden uns die Wege zu neuen Ehren und Auszeichnungen zu rühmen wissen - nun sag´ an: Wo willst du hin?

Laßt uns antworten: Zu neuer Arbeit ! - "Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis" ... Daß wir nur zu der Erkenntnis heranreifen: Der Platz, auf dem wir stehen, ist uns von Gott zubereitet ! Daß wir nur unsere Arbeit zu Gottes Ehre verrichten und mehr und mehr die Erfahrung machen, daß alle rechtschaffene Arbeit nicht der Fluch, sondern der Segen des Lebens ist !

Und hinein müssen wir in neue Sorge ! Wer die Tiefen der Sorge nicht kennt, der kennt das Leben nur von der Oberfläche - gerade in der Sorge lernt man zu der Sorglosigkeit vordringen, die des Lebens höchste Kunst bedeutet, und in Sorgenstunden gerade macht man Lebenserfahrungen, die einem in guten Stunden versagt bleiben. Also nicht klagen und nicht verzagen, sondern frisch hinein: es wird so tief nicht sein !

Wo willst du hin ? Wir antworten zum Schluß:

Hinein in neues Leben! Leben heißt nicht bloß, von einem Jahre zum andern, von einer Mühe zur andern wandern - Leben heißt auch nicht bloß, des Lebens Lasten wie des Lebens Freuden tragen ... heißt nicht, sich von den Fluten der Vergnüglichkeit treiben lassen ... wir müssen höher denken von dem, was wir Leben nennen ! Gott ist Leben - und nur der lebt ein wirkliches Leben, der Gott lobt ! ... Wir leben für so Vieles, was eigentlich keinen Lebenskeim in sich trägt: daß wir doch endlich dem wahrhaftigen Leben leben wollten ! Wir streben nach so Vielem in der Welt, was sich hernach als tot erweist: daß wir doch endlich das Eine, Lebendige und Lebenspendende erstreben wollten !

Kann man’s denn erreichen ?
Die Rechte streckt´ ich suchend oft In Harmesnächten
Und fühlt´ gedrückt sie unverhofft Von einer Rechten
Was Gott ist, wird in Ewigkeit / Kein Mensch ergründen,
Doch will er treu sich allezeit / Mit uns verbünden !

Ja, Freunde: - mit uns verbünden ! Und da steht er am Wasserbrunnen in der Wüste - nicht der Engel, den Hagars verweintes Auge schaute ... nein: der mehr ist als ein Engel ... er selbst, der unsere Hand in Gottes, seines himmlischen Vaters Hand legt: Jesus Christus, der Brunnenquell alles Lebens !

Hin zu ihm - daß seiner Liebe Glut unsre kalten Werke töte ... daß seine Treue unsere Untreue breche - daß seine Geduld uns stille mache.

Hin zu ihm - daß sein Wort unseres Lebens Stern werde - daß sein Evangelium unserer Tage Freude und unserer Nächte Trost werde - daß sein Leben unser Leben werde !

Wo willst du hin ? ... Es gibt keine bedeutungsvollere Frage. Von ihrer Beantwortung hängt Segen wie Unsegen unseres Lebens ab. Wir sind evangelische Christen - wir haben nur eine Antwort: Wir müssen zu Jesu Christo und durch ihn, in ihm, mit ihm zum Vater !

Hört ihr den Wasserbrunnen durch die Wüste rauchen ?

Nun wohlan: wen da dürstet, der komme zu ihm und trinke ! und die Wüste wird ein gut Land werden.

Amen

Da ist der Text, wie er heutzutage neu rezitiert werden kann.

Beachten Sie dazu die Erklärungen zum Projekt Historische Predigt!